Deutschland muss Solidarität üben
Prof. Dr. Ulrich von Alemann, Jg. 1944, in Krefeld und Köln aufgewachsen, ist Prof. für Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er war Mitgründer und Leiter der 1993 ins Leben gerufenen „Forschungsinitiative Verbände“ (FIVE), deren Arbeiten mittlerweile abgeschlossen wurden, und stellvertretender Direktor des „Instituts für deutsches und europäisches Parteienrecht und Parteiforschung“ (PruF) sowie Mitglied der Parteienfinanzierungskommission des Bundespräsidenten. Seit 1999 ist Alemann außerdem Leiter der „Forschungs-Initiative NRW in Europa“ (FINE), eines Projektes seines Lehrstuhls. Mit der Begründung, dass heutzutage die Regionen eine immer wichtiger werdende Rolle in der Politik Europas spielen, wird in diesem Projekt das Augenmerk auf die Regionen und Kommunen Europas gelegt. FINE untersucht die verschiedenen Formen regionaler Vernetzung (Forschung, Kommunikation und Kooperation), die der wichtigen Interessenvermittlung dienen, anhand des Beispiels Nordrhein-Westfalens. (Siehe auch Medientipps, S. 58 der Ausgabe 3/2015)Markus Lahrmann
Caritas in NRW: Ein soziales Europa ist möglich? Welche Hoffnungen haben Sie, dass wir dieses soziale Europa überhaupt noch erreichen können?
Ulrich von Alemann: Ich habe Hoffnung, aber nichts ist sicher. Wir üben Kritik an der Austeritätspolitik, also an der Sparpolitik der Regierungen einschließlich der deutschen Regierung. Ein soziales Europa ist möglich, es existiert aber kein sicherer Weg dorthin.
Caritas in NRW: Die Diskussion über die Sparprogramme wird zwischen den Regierungen der Nationen geführt. Welche Akteure sehen Sie noch, die ein soziales Europa voranbringen können?
Ulrich von Alemann: Da sind natürlich die politischen Parteien im Europaparlament. Hier ist die Parteifamilie der Sozialdemokraten besonders aktiv in Richtung auf ein soziales Europa. Aber auch die christlichen Volksparteien haben in Teilen durchaus auch das soziale Europa auf ihre Fahnen geschrieben. Neben den Parteien ist aber ganz wichtig für eine Durchsetzung auch das, was man heute Zivilgesellschaft nennt. Dazu gehören die klassischen Verbände, nämlich die Gewerkschaften, die Kirchen und in Deutschland gerade auch die Wohlfahrtsverbände, die in solch einer starken Funktion in keinem anderen Land Europas vorkommen. Sie sind in Deutschland sehr stark, sie sind auch stark in Brüssel vertreten. Notwendig wäre ein schlagkräftiges Bündnis dieser etablierten Verbände, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände gemeinsam mit den neuen sozialen Bewegungen wie Selbsthilfegruppen, Menschenrechtsgruppen, mit Bürgergruppen, die durchaus auch für ein soziales Europa zu aktivieren sind.
Caritas in NRW: Die Kirchen und Wohlfahrtsverbände wie die Caritas sind in vielen Ländern Europas aktiv. Sie leisten überall Hilfe für Menschen in Not. Müsste bei der Caritas der europäische Gedanke gestärkt werden?
Ulrich von Alemann: Die Caritas selbst ist - wie auf der evangelischen Seite ja auch das Diakonische Werk - intern sehr föderalistisch organisiert. Es existieren viele rechtlich selbstständige Einzelorganisationen, Einzelverbände. Das stärkt sie an der Basis, weil sie dort sehr eigenständig arbeiten können. Aber das schwächt sie in ihrer Durchschlagskraft in der Zentrale, ob das nun Berlin oder Brüssel ist. Hier müssten alle Wohlfahrtsverbände - und in diesem Fall auch die Caritas - sehr viel intensiver überlegen, wie sie ihre Schlagkraft in zentralen Politik-Bereichen erhöhen können. Das gilt für Berlin, noch mehr aber auch für Brüssel.
Caritas in NRW: In Deutschland boomt im Moment die Wirtschaft. In Ländern wie Spanien, Portugal herrscht hohe Arbeitslosigkeit. Welche Hoffnungen haben Sie an die europäische Politik und die Zivilgesellschaft, wie sie diese ganz unterschiedlichen Verhältnisse und Bedingungen ausgleichen können?
Ulrich von Alemann: Ich bin kein blauäugiger Optimist. Ich weiß, wie schwer es ist, das größte soziale Problem, die Arbeitslosigkeit in Europa, wirksam zu bekämpfen. Am schlimmsten ist eigentlich die Jugendarbeitslosigkeit, die in manchen südeuropäischen Ländern erschreckende Ausmaße von über der Hälfte der jungen Menschen annimmt. Aus deutscher Sicht müssen wir mehr Solidarität schaffen. Gerade beim Begriff der Solidarität müssten die Wohlfahrtsverbände und die Caritas Bündnisgenossen sein. Wir Deutschen, auch die skandinavischen Länder und teilweise Benelux gehören zu den prosperierenden Ländern in Europa und haben deswegen wirkliche Verpflichtung. Wenn wir Europa wollen, dann nicht nur als Schönwettergebilde. Auch bei Problemen müssen wir gemeinsam versuchen, diese zu lösen, und nicht nur auf unsere eigene Wachstumspolitik und unsere Exportvorteile schauen. Gerade Deutschland hat eine immense soziale Verpflichtung gegenüber den übrigen Teilen Europas, denen es nicht so gut geht. Deutschland muss daran denken - noch vor weniger als 20 Jahren war es mal der "kranke Mann" Europas. Vor 60 Jahren, nach dem Krieg, lag unser Land ganz danieder, und ihm ist durch Marshall-Plan-Hilfe geholfen worden. Jetzt ist diese Hilfe von Deutschland für Südeuropa gefragt.
Caritas in NRW: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Markus Lahrmann.
Ein soziales Europa ist möglich
Alemann, Ulrich von / Heidbreder, Eva G. / Hummel, Hartwig / Dreyer, Domenica / Gödde, Anne (Hrsg.): Ein soziales Europa ist möglich. Grundlagen und Handlungsoptionen, Springer VS, Wiesbaden 2015, 49,99 Euro
Stichworte wie "mehr Solidarität" oder "Austeritätspolitik" haben in den letzten Jahren die Debatte um die Krise in Europa dominiert. Doch diese Schlagworte gehen am Kern vorbei. Denn - und das ist in dem Buch dargestellt - so wie die EU verfasst ist, ist die soziale Dimension fest darin verankert. Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es beispielsweise eine Querschnittsklausel, die besagt, dass bei allen Integrationsschritten die soziale Dimension mitbedacht werden muss. Allerdings wird seit der Staatsfinanzkrise nicht mehr innerhalb der europäischen Organe diskutiert und entschieden, sondern Staats- und Regierungschefs fassen Ad-hoc-Beschlüsse. Dabei ist auch eine soziale Dimension des gemeinsamen Europas verloren gegangen, und das ist es, was die Bürger in den südlichen "Schuldenstaaten" von der Troika und ihren eigenen nationalen Politikern wahrnehmen. Beim Weg der europäischen Integration ist die in den Verträgen grundgelegte Anlage zur sozialen Integration nicht mehr wirklich umgesetzt worden.
Derzeit ist Europa an einem Punkt in der EU, an dem die sozialen Spannungen immer größer werden innerhalb und zwischen verschiedenen Ländern. Nicht umsonst fordern viele Akteure von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, den sozialen Dialog wieder zu beleben, indem beispielsweise das milliardenschwere Investitionspaket um eine soziale Dimension erweitert wird. Es muss etwas passieren, sonst werden die nächsten Europawahlen eine totale Katastrophe.
Oder wie es NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft im Vorwort des vorliegenden Bandes schreibt: "Anti-europäische Tendenzen werden stärker, solange die Europäische Union kein überzeugendes Konzept gegen die Ursachen der Wirtschaftskrise findet." Immer mehr Bürger und EU-Skeptiker in den politischen Parteien sähen Europa nicht als Lösung, sondern als Teil des Problems.
Dieser vorliegende Band greift diese Debatte aus einer entschieden pro-europäischen Haltung auf. Die Herausgeber sind Mitarbeiter an der Forschungs-Initiative NRW in Europa (fine) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Gezeigt werden die Grundlagen eines sozialen Europas, konkrete Handlungsoptionen zu deren Ausgestaltung und Wege zu einer sozial orientierten Europäischen Union. Der erste Teil beschreibt die bestehenden Grundlagen eines sozialen Europas und stellt den Rechts- und Politikbestand der EU-Integration dar. Der zweite Teil greift konkrete Vorschläge zur weiteren Ausgestaltung der Sozialunion auf. Konkret lassen sich Konturen einer europäischen Mindestlohnpolitik skizzieren, eine "europäische Arbeitslosenversicherung als Baustein für ein soziales Europa" wird aufgezeigt, und Reaktionen der EU auf die Jugendarbeitslosigkeit werden diskutiert. Im letzten Teil geht es um "Akteure, Interessen und Konflikte", die Problemfelder auf dem Weg zu einem sozialen Europa werden kontrovers diskutiert. In allen drei Teilen werden die wissenschaftlich fundierten Debattenbeiträge jeweils durch zwei Stellungnahmen aus der politischen Praxis kommentiert.