"In einer wissenden Weise Sexualität leben"
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gilt für jeden Menschen.Foto: muro | stock.adobe.com
Mit der Frage, ob Menschen mit Behinderung ihre Sexualität ausleben dürfen, sieht sich Svenja Stiemer des Öfteren konfrontiert. "Das fragen Eltern immer wieder einmal", sagt die Sozialpädagogin. "Sexualität steht natürlich jedem Menschen zu, sofern er die Grenzen der anderen nicht verletzt", antwortet die 32-Jährige dann. Sie arbeitet im Kinder- und Jugendbereich des Vinzenz-Heims in Aachen, einer Einrichtung für Kinder, Jugendliche und erwachsene Menschen mit Behinderung. Mit Eltern, denen es schwerfällt, wahrzunehmen und zu akzeptieren, dass sich ihre Kinder mit ihrer Sexualität beschäftigen, führen Svenja Stiemer und ihre Kolleginnen und Kollegen immer wieder Gespräche. Menschen mit Behinderung dürften Sexualität auch erleben, im Laufe ihrer körperlichen Entwicklung sei das wichtig, das sei ein ganz normales Lebensthema, erklären sie dann.
Sexualpädagogik und Prävention
Mit dem Thema Sexualität offen umzugehen, auch mit den Kindern, die zwischen zehn und 13 Jahren alt sind, ist im Vinzenz-Heim gewollt. Anne Schilling, Präventionsfachkraft im Vinzenz-Heim, ist froh, dass die Einrichtungsleitung immer wieder dazu ermutigt, über das Thema Sexualität zu sprechen und Aufklärung als Teil des pädagogischen Auftrags der Mitarbeitenden zu sehen. In der Einrichtung, die Standorte in der Stadt und Städteregion Aachen hat, sind nach wie vor Mitarbeitende tätig, die bereits im Vinzenz-Heim waren, als das Haus noch von Nonnen geführt wurde. "In den 1980er- und 1990er-Jahren war es noch in einigen Wohngruppen beim Thema Sexualität so: Nicht drüber reden, die Decke bis hier oben", sagt Anne Schilling und hält ihre Hand in Höhe des Schlüsselbeins.
Anne Schilling (l.) und Michelle Souvignier begleiten im Vinzenz-Heim in Aachen das Kompetenzteam sexuelle Selbstbestimmung.Foto: Anne Laumen
Als Teil ihres Gewaltschutzkonzeptes hat die Einrichtung ein Kompetenzteam sexuelle Selbstbestimmung etabliert. Denn der Träger erkannte, dass es nicht allein um Prävention sexualisierter Gewalt gehen könne. Mit einem Verhinderungsblick allein könne kein Gewaltschutz betrieben werden, sagt Anne Schilling. "Wir hielten es für wichtig, durch Sexualpädagogik Menschen zu befähigen, in einer wissenden Weise ihre Sexualität zu leben", erzählt die 45-jährige Diplom-Heilpädagogin und ergänzt: "Unsere Mitarbeitenden sind angehalten, die Bewohnenden beim Erkennen und Benennen der eigenen Grenzen, Wünsche und Bedürfnisse zu unterstützen, und dazu gehört auch, zu sagen, was sie nicht wollen." Mit ihrer Kollegin Michelle Souvignier (31), die einen Bachelor in Psychologie und einen Master in Reha-Wissenschaften hat, begleitet Anne Schilling das Kompetenzteam sexuelle Selbstbestimmung. Zwei- bis dreimal jährlich trifft sich das Team zum Austausch. Aus jeder Abteilung der Einrichtung ist mindestens eine pädagogische Fachkraft dabei.
Ältere sind oft unsicherer
Sozialpädagogin Christiane Schönmann arbeitet im ambulant betreuten Wohnen des Vinzenz-Heims mit Erwachsenen.Foto: Anne Laumen
Auch Christiane Schönmann ist dabei. Die 36-jährige Sozialpädagogin arbeitet im ambulant betreuten Wohnen des Vinzenz-Heims mit Erwachsenen. Dass es den Austausch im Kompetenzteam sexuelle Selbstbestimmung gibt, findet sie wichtig. "Der Austausch und die Fachimpulse helfen, viel besser auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen. Man profitiert von den Erzählungen der Kolleginnen und Kollegen, wenn sie über ihren Alltag in der Einrichtung berichten", sagt sie. Da gehe es dann etwa um Fragen, ob Partnerinnen oder Partner in der Wohnung übernachten könnten oder ob Menschen mit Behinderung, die sich gernhaben, zusammenziehen könnten. Svenja Stiemer berichtet, in der Wohngruppe der Zehn- bis 13-Jährigen gehe es um Themen wie: Mein Körper gehört mir. Oder: Ich sage "stopp", wenn ich etwas nicht möchte. Zudem gibt es neben dem Austausch im Kompetenzteam fallbezogene Beratungen in den Wohngruppen selbst.
Christiane Schönmann hat beobachtet, dass es eine Generationenfrage ist, wie Bewohnende des Vinzenz-Heims mit dem Thema Sexualität umgehen. "Die Bewohner, die Anfang 20 sind, sind deutlich weiter als die Älteren. Sie sind sich auch klarer über Grenzen", sagt sie. Michelle Souvignier verweist auf den Einfluss der neuen Medien. Jüngere Bewohnerinnen und Bewohner wüssten, wo sie sich informieren könnten. Sie forderten auch Dinge eher ein. Sie wüssten, dass sie ein Recht auf Sexualität hätten. "Früher wurde das Thema eher tabuisiert", sagt sie. Menschen in der Einrichtung, die 50 oder 60 Jahre alt seien, erlebt Christiane Schönmann als unsicherer. "Wer darf mich anfassen? Muss ich alles zulassen? Das sind Fragen, die dann kommen", erzählt sie. Anne Schilling sagt, dass man nie sicher sein könne, ob ältere Bewohnende nicht auch in ihrer Biografie Übergriffigkeit erlebt hätten. Daher sei das Thema Sexualität auch immer mit den Fragen nach Schutz und Gewaltschutz verknüpft.
Sozialpädagogin Svenja Stiemer arbeitet im Kinder- und Jugendbereich des Vinzenz-Heims in Aachen.Foto: Anne Laumen
Achtsamkeit und Schutz
Das Vinzenz-Heim legt Wert darauf, dass Mitarbeitende und die Bewohnerschaft achtsam miteinander umgehen. "Wir klopfen an, wenn wir in ein Zimmer wollen. Das gilt für die Mitarbeitenden, aber auch für die Bewohnerinnen und Bewohner", sagt Svenja Stiemer. Und die Mitarbeitenden fragen die Bewohnenden, die gepflegt werden müssen, wer die Pflege übernehmen soll. "Pflege ist ja auch ein Eingriff in die Intimsphäre", sagt die Sozialpädagogin.
In den Wohngruppen mit Kindern im Alter von zehn bis 13 Jahren müssen Svenja Stiemer und ihre Kolleginnen und Kollegen immer wieder auf dem Schirm haben, dass es beim Thema Sexualität auch um das Thema Schutz, manchmal auch um Selbstschutz geht. Wenn eine Bewohnerin den Wunsch äußere, ein Nacktbild von sich über einen Messenger zu verschicken, könne das zum Beispiel ein Anlass sein, in der Gruppe nicht nur über eigene Grenzen zu sprechen, sondern auch über die richtige Nutzung von Medien, sagt sie. Auch das Thema Selbstbefriedigung ist in diesem Alter Gesprächsstoff. "Dann besprechen wir, dass das eigene Zimmer oder das Badezimmer geeignete Räume für Selbstbefriedigung sind. Unter der Dusche oder im Bett kann man sich eine schöne Zeit machen. In der Küche, wo alle am Tisch sitzen, geht das allerdings nicht", sagt Svenja Stiemer.
Erklärungen mit Bildmaterial und Kunstpenis sind passive Sexualassistenz
Das Peter-Bonn-Haus ist das Stammhaus des Vinzenz-Heims in Aachen.Foto: Anne Laumen
Die Mitarbeitenden müssen im Laufe der Zeit ein Gefühl dafür entwickeln, welches Thema sie in welchem Setting besprechen. "Wir unterscheiden da zwischen Tisch-Themen, die in der Gruppe besprochen werden können, und Zimmer-Themen, für die ein Einzelsetting notwendig ist", sagt Michelle Souvignier. Zudem hätten die Mitarbeitenden mittlerweile ein immer besseres Gespür dafür, was die Menschen mit Behinderung hinsichtlich ihrer Sexualität beschäftige und wie sie in diesen Situationen begleiten könnten, sagt Anne Schilling. Sie erinnert sich an einen Jugendlichen mit Behinderung, bei dem die Mitarbeitenden der Wohngruppe vermuteten, dass seine Versuche zur Selbststimulation nicht befriedigend waren. Mit Bildmaterial und einem Kunstpenis versuchten sie zu erklären, wie es besser funktionieren könnte. "Das ist passive Sexualassistenz, die dürfen wir durchführen, aber wir dürfen selbstverständlich niemanden intim berühren", sagt Anne Schilling. Auch wenn in einer Wohngruppe ein Paar den Wunsch hat, das Bett zu teilen, sind die Mitarbeitenden gefordert, in angemessener Weise zu unterstützen.
Der Umgang mit Sexualität in Einrichtungen für Menschen mit Behinderung ist für Michelle Souvignier gelebter Alltag. "Der Unterschied zwischen der Welt hier drinnen und da draußen ist eigentlich gar nicht so groß", sagt sie. Im Vinzenz-Heim komme es wesentlich darauf an, Zusammenhänge in einer leichten Sprache zu erklären oder in einer Weise, die die Bewohnerinnen und Bewohner verständen. Den größten Unterschied zur Arbeit mit Menschen, die kognitiv nicht eingeschränkt sind, sieht Michelle Souvignier darin, dass sie im Vinzenz-Heim viel mehr mit Hypothesen arbeiten und so viel mehr vermuten müssten.
Sexualität und Partnerschaft
- in leichter Sprache -
Sexualität ist für viele Menschen wichtig.
Auch Menschen mit Behinderungen
haben sexuelle Wünsche.
Aber es wird oft nicht richtig darüber gesprochen.
Viele Menschen wissen oft nicht:
wie sie mit Menschen mit Behinderungen
über das Thema Sex reden sollen.
Das ist besonders schwer:
wenn Menschen eine schwere Behinderung haben.
Oder wenn sie mehrere Behinderungen haben.
Dabei haben Menschen mit Behinderung
genau die gleichen Gefühle
wie Menschen ohne Behinderung.
Und sie haben auch die gleichen Wünsche.
Beratungs-Stellen können dabei helfen:
die richtigen Worte zu finden.
Und Probleme zu lösen.
Sexualität ist für viele Menschen sehr schön.
Aber viele Menschen sprechen nicht darüber.
Weil sie sich vielleicht unsicher sind.
Oder weil sie sich schämen,
mit anderen Menschen darüber zu sprechen.
Für Menschen mit Behinderung ist es oft noch viel schwieriger,
über ihre Sexualität zu sprechen.
Quelle: www.familienratgeber.de der Aktion Mensch